33. KAPITEL

Das Justizzentrum von Portland ist ein sechzehnstöckiges Hochhaus aus Beton und Glas in der Innenstadt. Ein Park trennt es vom Multnomah-County-Gerichtsgebäude. Außer dem Polizeipräsidium von Portland beherbergt das Justizgebäude das Büro des Bezirksstaatsanwalts, verschiedene Gerichtssäle, das kriminal technische Labor, die Behörde für Bewährungen und vorzeitige Haftentlassungen sowie das Gefängnis von Multnomah County. Ami Vergano war bereits im dreizehnten Stock des Justizzentrums gewesen, als sie von den Kriminalbeamten der Portland-Polizei verhört worden war, aber ein Gefängnis hatte sie noch nie von innen gesehen. Entsprechend unwohl fühlte sie sich bei ihrem ersten Besuch in diesem Teil des Hochhauses.

Das Gefängnis erstreckte sich vom dritten bis zum neunten Stockwerk des Justizzentrums, aber die Anmeldung lag im ersten Stock. Der Weg dorthin führte durch die Lobby mit der gewölbten Decke, vorbei an den geschwungenen Treppen, die zu den Gerichtssälen im zweiten Stock führten, und durch zwei Glastüren.

»Ich bin Ami Vergano, Vanessa Kohlers Anwältin«, erklärte sie dem Deputy am Empfang. »Ich möchte sie besuchen. Sie ist vielleicht unter dem Namen Vanessa Wingate eingetragen.«

Während der Deputy ihren Ausweis kontrollierte, sah sich Ami in dem Raum um. Ein Teenager mit Tätowierungen und einem Nasenring warf beunruhigte Blicke auf die Tür, durch die ehemalige Gefangene das Gefängnis verließen. Das Mädchen roch, als hätte es seit Tagen nicht mehr gebadet, und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Die einzige andere Person, die im Empfangsbereich wartete, war ein korpulenter Anwalt. Er las Polizeiberichte. Offenbar bereitete er sich auf den Besuch bei einem Mandanten vor

Der Beamte gab Ami den Ausweis zurück und durchsuchte ihren Aktenkoffer. Als die Suche weder Waffen noch verbotene Güter zu Tage förderte, winkte er Ami zu einem Metalldetektor vor dem Gefängnisaufzug. Ami ging hindurch, ohne Alarm auszulösen. Ein anderer Beamter brachte sie zum Aufzug und fuhr mit ihr in das Stockwerk, in dem Vanessa einsaß.

Nach der kurzen Fahrt trat Ami in einen engen Korridor mit grauen Betonwänden. Kaum hatten sich die Aufzugtüren hinter ihr geschlossen, bekam sie Platzangst. Der Beamte an der Rezeption hatte ihr gesagt, sie sollte den Polizisten auf diesem Stockwerk über eine Gegensprechanlage rufen, die an der Wand neben einer dicken Metalltür auf dem Flur befestigt war. Ami drückte mehrmals nervös den Knopf, bis der Lautsprecher knisterte und eine Stimme sie nach ihren Wünschen fragte.

Wenige Augenblicke später betrachtete ein Gefängniswärter Ami durch die dicke Glasscheibe in der oberen Hälfte der Tür und sprach in ein Walkie-Talkie. Elektronische Schlösser schnappten auf, und der Wachmann schob Ami in einen anderen schmalen Korridor, der an den drei großen Besuchsräumen entlang führte, in der Gefangene ihren Anwälten von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen konnten. Scheiben aus bruchsicherem Glas gewährten einen Blick in die Räume.

Vanessa wartete bereits in dem am weitesten von den Aufzügen entfernten Raum. Sie trug einen orangefarbenen Overall und saß auf einem Plastikstuhl, von denen noch ein identischer auf der anderen Seite eines runden Tisches stand, der am Boden festgeschraubt war. Der Wachmann öffnete eine weitere Metalltür und trat zur Seite. Ami ging in das Zimmer, und der Wachmann deutete auf einen schwarzen Knopf, der an einer Gegensprechanlage an der Betonwand befestigt war.

»Drücken Sie den Knopf, wenn Sie fertig sind. Dann lasse ich Sie heraus.« Die Tür fiel ins Schloss

Vanessa war ungekämmt und deutlich abgemagert. Sie hatte endlose Tage im Gefängnis von San Diego gesessen, während Oregon und Kalifornien sich darum stritten, wer sie zuerst anklagen durfte.

»Geht es Ihnen gut?« fragte Ami.

»Nein. Ich bin am Ende«, antwortete Vanessa aufrichtig. Sie wirkte erschöpft.

»Es tut mir so leid, Vanessa.«

»Es ist nicht Ihre Schuld. Ich allein trage die Verantwortung.« Plötzlich zeigte sich ein Anflug von Vanessas alter Entschlossenheit und Selbstvertrauen auf ihrem Gesicht.

»Aber ich bereue nichts. Carl wäre tot, wenn ich ihn nicht gerettet hätte.« Dann ließ sie die Schultern sinken und wirkte verloren. »Hoffentlich überlebt er im Gefängnis. Seine Chancen stehen nicht gut. Er ist für den General eine zu große Bedrohung.«

Ami widersprach ihr nicht. Sie war mittlerweile davon überzeugt, dass diese geheime Einheit eine Wahnvorstellung ihrer Mandantin war, aber was nützte es, wenn sie ihr nun widersprach. Sie öffnete den Aktenkoffer und entnahm ihm einige Dokumente.

»Ich habe eine Niederlegungsverfügung mitgebracht, die Sie unterschreiben müssen.« Ami schob ihr die Papiere und einen Stift hinüber.

»Sie wollen mich nicht vertreten?«

»Das kann ich nicht. Das haben wir doch schon bei unserem ersten Gespräch geklärt. Erstens habe ich keine Erfahrung als Strafverteidigerin, und zweitens ist es unethisch für einen Anwalt, zwei Mandanten in demselben Fall zu verteidigen. Das ist ein eindeutiger Interessenkonflikt. Zum Beispiel kann ein Anwalt für seinen Mandaten einen Deal mit der Anklage aushandeln. Wenn es zwei Angeklagte gibt, ist es Usus, dass der Anwalt eines Beklagten dem Bezirksstaatsanwalt anbietet, dass sein Mandant für ein geringeres Strafmaß gegen den anderen Angeklagten aussagt. Das kann ich aber nicht für Sie und Carl tun, wenn ich Sie beide vertrete. Außerdem habe ich geholfen, Sie zu verstecken. Können Sie sich vorstellen, welche Schwierigkeiten ich bekomme, wenn das herauskommt? Ich habe Ihnen geholfen und aktiv Beihilfe zu Ihrer Flucht geleistet. Wenn ich ebenfalls angeklagt werde, muss ich den Fall niederlegen. Ganz zu schweigen davon bin ich Zeugin für Carls Angriff auf Barney Lutz und den Polizeibeamten bei Ryans Spiel.« Ami lächelte bedauernd. »Machen Sie sich keine Sorgen! Ray Armitage will Carl nach wie vor vertreten, und für Sie habe ich Janet Massengut als Anwältin gewonnen. Sie ist exzellent und glaubt, dass sie eine gute Chance hat, Sie gegen Kaution freizubekommen.«

»Nein.« Vanessa schüttelte den Kopf. »Ich wäre in großer Gefahr, wenn ich freikäme. Ich bin in Einzelhaft, und mein Vater kann mir nichts tun, es sei denn, er besticht einen Wächter.«

»Das können Sie mit Ihrer neuen Anwältin besprechen. Sie müssen keine Kaution beantragen, wenn Sie nicht wollen. Sobald Sie diese Erklärung unterschrieben haben, übernimmt Janet Ihren Fall. Sie hat heute noch keine Zeit, wird Sie aber gleich morgen aufsuchen.«

Vanessa griff über den Tisch und legte ihre Hand auf Amis. »Lassen Sie mich nicht im Stich, Ami.«

»Haben Sie nicht zugehört? Ich habe keine Wahl.«

»Sie müssen meine Anwältin bleiben. Das ist meine einzige Chance.«

»Ihre einzige Chance? Wofür?«

»Um meinen Vater zu entlarven und Carl zu retten.«

»Wie wollen Sie das schaffen, Vanessa?« Ami wurde allmählich gereizt, weil ihre Mandantin die Realität offenbar einfach nicht akzeptieren wollte

»Ich kann eine Anhörung in einem öffentlichen Verfahren beantragen, bei dem die Presse und die Öffentlichkeit anwesend ist. Ich kann Zeugen aufrufen. Ich kann meinen Vater vorladen, und Sie können ihn unter Eid ins Kreuzverhör nehmen, während die ganze Welt zusieht.«

»Das wird nicht funktionieren. Er wird einfach alles abstreiten, und der Ankläger wird Ihre psychiatrische Krankengeschichte ausbreiten. Ihr Anwalt hat keinerlei Beweise, die irgendetwas von dem widerlegen würden, was der General sagt.«

»Carl würde ihm widersprechen.«

»Niemand wird Carl seine Geschichte ohne Beweise abnehmen. Was glauben Sie, bleibt von seiner Glaubwürdigkeit übrig, wenn Brendan Kirkpatrick ihn erst ins Kreuzverhör genommen hat? Die Beweise, dass er einen Kongressabgeordneten, einen General, einige der Sicherheitsbeamten Ihres Vaters und meinen Freund George French ermordet hat, sind einfach überwältigend.«

Vanessa sah Ami direkt an. »Carl schwört, dass er nicht einmal in den Vereinigten Staaten war, als General Rivera ermordet wurde. Und George French hat er ebenfalls nicht umgebracht. Ich war von dem Moment bei ihm, an dem ich ihm zur Flucht verholfen habe, bis zur Entführung durch meinen Vater.«

Ami schüttelte den Kopf. »Das können Sie den Leuten nur schwer verkaufen, Vanessa. Ich habe die Fotos des Tatorts von Lost Lake gesehen. George wurde auf dieselbe Weise umgebracht, wie Carl den Kongressabgeordneten getötet hat. Und wenn Sie sein einziges Alibi sind ...« Ami hob die Hände. »Erkennen Sie das Problem?«

»Es gibt eine Möglichkeit, wie ich meinen Vater entlarven kann, die nichts mit Carl zu tun hat. Aber Sie müssen mir dabei helfen. Ich traue sonst niemandem zu, diese Sache durchzuziehen.«

»Was wollen Sie durchziehen?« fragte Ami argwöhnisch

»Ich kann vielleicht beweisen, dass diese Einheit existiert hat und mein Vater daran beteiligt war. Es ist allerdings schwierig.« Vanessa schaute auf die Tischplatte. »Wenn es nicht funktioniert

Sie wirkte so niedergeschlagen, dass Ami beinahe widerwillig Mitleid für sie empfand.

»Das geht nicht, Vanessa. Ich habe Ihnen gerade erklärt, warum ich Ihren und Carls Fall niederlegen muss. Schildern Sie Janet Massengill Ihren Plan! Sie kann alles, was ich kann, nur viel besser.«

Vanessa schaute hoch. Ihre Miene war wie versteinert, und nur ihre Augen glühten vor Entschlossenheit.

»Sie sind meine einzige Hoffnung, Ami. Sie werden Carl und mich nicht im Stich lassen.«

»Vanessa ...«

»Ich werde der Polizei verraten, dass Sie uns geholfen haben.«

Ami war einen Moment fassungslos, dann stieg ihr vor Wut das Blut ins Gesicht. »Ich wäre ruiniert«, sagte sie.

»Man würde mich verhaften und aus der Anwaltskammer ausschließen.«

»Ich wollte nicht, dass es soweit kommt, aber ich habe keine Wahl. Ich muss meinen Vater aufhalten. Er darf nicht Präsident der Vereinigten Staaten werden, sondern muss für alles zahlen, was er mir, Carl und vielen anderen angetan hat.«

»Bitte, tun Sie das nicht, Vanessa. Ich habe nur versucht, Ihnen zu helfen. Ich habe Ihnen nie etwas Schlechtes zugefügt. Warum wollen Sie mir und meinem Sohn das antun?«

»Ich will weder Ihnen noch Ryan weh tun, aber ich mache es, wenn es sein muss. Vergessen Sie eines nicht, Ami. Ich bin die Tochter meines Vaters, und ich kann genauso rücksichtslos sein wie er, wenn es nicht anders geht.« »Was wollen Sie von mir?« Ami hoffte, dass sie einen Fehler in Vanessas Plan finden würde und Wingates Tochter überzeugen konnte, ihn aufzugeben und sie gehen zu lassen.

»Schreiben Sie sich diese Nummer auf! Das ist die Nummer von Victor Hobsons Handy. Arrangieren Sie ein Treffen. Wenn ich recht habe, gibt es einen konkreten Beweis, dass die Einheit existierte. Und er kann mir helfen, diesen Beweis zu finden.«

Die Schuld wird nie vergehen
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